Die
fruchtvollste
Dynamik
ist die,
die sich auf
die Stille
zubewegt
statt auf den
Lärm

J.M. Piel



























































Inhalt



 
Eine Frage der Nuancen
Übersetzunge eines Artikels aus dem Editorial von DIAPASON, Sommer 1995,
Autor Jean Marie Piel


Seltsamerweise korrespondiert die musikalische Wahrheit nicht immer mit der Klangtreue. Vielleicht können wir dieses Paradoxon auflösen...

Mit der ihm eigenen Ironie hat Paul Valéry einmal definiert, daß die Perversion dort beginnt, wo man das Einzelne wichtiger nimmt als das Ganze. Ein Satz, den wir HiFi-Freunde auf uns beziehen dürfen, beschreibt er doch auch das fragwürdige Vergnügen, das wir am Genuß von Musik finden, die aus kleineren oder größeren Lautsprecherkisten dringt. Die moderne Aufnahmetechnik tut ein Übriges, um uns die Details näher zu bringen als das Ganze; sie führt uns, ohne unzulässig verallgemeinern zu wollen, zum fragmentarischen Hören. Wenn man einem Orchester mit zwanzig Mikrofonen zu Leibe rückt, kann die Kohärenz, die große Linie, eigentlich nur auf der Strecke bleiben. Wir sind auf´s Detail zurückgeworfen, nur ihm kann unser Interesse noch gelten.

Nun ist Musik aber das Gegenteil von Vereinzelung, das Detail ist tatsächlich bloß Klang, ein Stück vom Klang...

Allerdings existiert die Musik nur durch den Klang. Nimmt man ihn weg, verschwindet sie mit ihm. Der Klang ist Substrat der Musik, sie besteht nicht aus den Noten. Seltsamerweise vermittelt der richtige Klang nicht immer die wahre Emotion, diejenige, die ins innerste Zentrum der Musik führt.

Wir stehen hier vor einem großen Problem: Bei der Beurteilung einer HiFi-Anlage konzentrieren wir uns automatisch auf rein klangliche Gesichtspunkte, wie kommen die unteren Mitten, sind die Höhen zu scharf? Als ob man sich im Konzert je solche Fragen gestellt hätte! Hier gibt es ja weder Bässe noch Tweeter, nur Musiker, die etwas darbieten. So sollten wir auch die Anlagen hören: Wer spielt da, und wie? Natürlich machen viele Geräte, in allen Preisklassen, diesen Ansatz nicht leicht. Sie können das unsichtbare Band zwischen den Tönen nicht wiedergeben und damit auch nicht den musikalischen Sinn. Es gibt sozusagen nur Perlen, aber keine Kette. Die einzelnen Töne können dabei allerdings oft wunderschön reproduziert werden, perfekt an der Musik vorbei.

Was aber fehlt diesem Klang, wenn er die Musik nicht zum Leben erweckt? Und was ist es, das andere Anlagen - sei es manchmal verfärbt, manchmal in der Bandbreite begrenzt - soviel mehr Leben und Musik vermitteln läßt? Sie geben die Klangfarben nicht so perfekt wieder, aber sie transportieren im Bereich der Mitten (d.h. zwischen 200 und 4000 Hz), in dem sich die musikalische Energie konzentriert, die kleinsten Nuancen, das sind nicht nur die Intensitätsunterschiede zwischen den einzelnen Tönen, sondern auch die Schwankungen der Intensität innerhalb eines bestimmten Tons. Genau hier lebt die Musik. Um das zu erkennen, genügt es, eine einzelne von einem Musiker gespielte Note zu analysieren. Man erkennt sofort, daß dieser Ton von einem Menschen und nicht von einer Maschine hervorgebracht wird. Man hat kein konstantes Niveau, die Schwankungen mögen minimal sein, aber sie sind da. Mit dieser Fähigkeit, fast unmerklich zu übertragen, vermittelt eine Anlage Leben, ohne sie bleibt die Musik Notentext.

Ein anderer Versuch: Hören Sie sich an, wie Salvatore Accardo im Beethovenschen Violinkonzert die Töne gibt. Einige geht er mit scharfer Attacke an, sein Vibrato ist weit und stark, dann nimmt er die Intensität des Tons ebenso zurück wie das Vibrato, er bewegt sich über die vielen Ebenen von Nuancen um schließlich an der Grenze zur Stille anzugelangen. Dieses Spiel mit dem Halten des Tons - oder mit seinem Verklingen - schreitet so subtil voran, daß man nicht mehr genau weiß, wann der Ton endet und wann die Stille beginnt. Diese Unsicherheit, die uns zwingt, ganz im Hören aufzugehen, wirkt vor allem emotional. Wird die Wiedergabe hier undeutlich, werden die Nuancen simplifiziert, dann ist der Zauber gebrochen. Der Künstler vermag uns nicht mehr zu bewegen, weil er unser Ohr nicht in den Grenzbereich des Unhörbaren zwingt.

Die Essenz einer musikalischen Darbietung findet sich in dieser Arbeit am unendlich Feinen. Ob es sich darum handelt, einen Ton um den Bruchteil einer Sekunde verzögert anzuschlagen (eine Verzögerung, die nur wahrnehmbar ist, wenn die vorhergende Note weder zu lange nachschwingt, noch zu früh abbricht, oder um einen gehaltenen Ton, um ein Crescendo oder Diminuendo über mehrere Noten - alles was die Musik in Bewegung versetzt, mit greifbarer Dynamik, lebendigem Aufblühen, alles läßt sich im Grundsatz zurückführen auf die Qualität der Nuancen.

Ganz nebenbei erklärt sich daraus auch, warum manche alten Lautsprecher mit sehr hohem Wirkungsgrad, d.h. mit größter Präzision in der Wiedergabe dynamischer Relationen vor allem bei leisesten Signalen, ebenso wie einige unkompliziert geschaltete Röhrenverstärker schaffen, ungeachtet ihrer Schwächen in bezug auf Verfärbungsfreiheit und Übertragungsbereich die emotionale Intensität einer Interpretation mit bestürzender Wahrhaftigkeit zu vermitteln.

Unseren Entwicklern sollte das zu denken geben und sie davon überzeugen, daß die fruchtvollste Dynamik die ist, die sich auf die Stille zubewegt statt auf den Lärm.

zu den Aussenansichten von Jean Marie Piel