| Wer nicht hören will, muss lesen.
Wenn
man unterstellt, dass nicht nur die Technik sich entwickelt, dass auch
die Hörgewohnheiten sich ändern; wenn man annimmt, dass die
Beschreibungen des Klangs technisch reproduzierter Musik etwas aussagen
über die Gewohnheiten des Hörers - und dass sie etwas an
ihnen bewirken: Dann kann man eine Konstante ausmachen, die seit
einiger Zeit solche Erwartungen ans Hören mitbestimmt und den
Geschmack des Käufers prägt.
Der Raum
ist
alles; Räumlichkeit ist dabeisein, eintauchen, sich gefangen
nehmen lassen, ist Luft um die Instrumente; ist auch die Verlockung,
Erscheinungen nicht zu begreifen, sondern einfach darauf zu deuten: da!
Der Raum ist die Dimension der Gleichzeitigkeit, er stellt Reichtum
aus, die Prachtentfaltung des Materiellen, kurz, der Raum
verkörpert, in der Räumlichkeit bietet sich alles dar, was in
der Musik von Übel ist.
Zugestanden, die Darbietung von
Musik geschieht im Raum, er gehört zur Abbildung, aber war da
nicht noch eine andere Dimension?
Die Zeit
Die
Musik braucht den Raum, ein Quentchen davon; aber sie besteht aus Zeit,
gestaltet sich aus ihrem Ablauf, der ausserhalb von Musik etwas nicht
zu Hemmendes, Gewaltsames hat.
Wie wird das fassbar?
Im
Tempo. Was aber als schnell, was übereilt und gedehnt erscheint,
ist über die Jahrhunderte hinweg auch dem Diktat der Moden
unterworfen. Tempi treten zunächst einmal in ihrer Differenz
zueinander auf; bei den meisten Interpreten erklärt sich das
Langsame aus dem Schnellen, es muss einer schon sehr bedeutend sein, um
ein langsames Tempo aus der Langsamkeit heraus sinnfällig zu
machen.
Es gibt wichtigere Ausprägungen des zeitlichen
Verlaufs in der Musik, als die Geschwindigkeit, mit der die Noten
gespielt werden. Vor allem in der zeitlichen Parallelität, sei es
nur die zweier Töne verschiedener Höhe oder unterschiedlicher
harmonischer Zusammensetzung, zeigt sich eine Erscheinung, die mit
Reibung zu bezeichnen wäre; ein nicht nur abstrakter Rest, die
Möglichkeit, die Relation unterschiedlicher Modulation von Zeit
dingfest zu machen.
Die Platte “Villancios“ (HM
1025) beginnt mit einem Stück, das begreifen lässt, in
welchen Dimensionen Klang sich ausbreiten kann: Der dunkle Ton einer
Trommel scheint unwirklich lange zu schwingen, sparsam variiert breitet
er sich nicht nur im Raum aus, sondern zwingt die anderen Instrumente,
an ihm entlang zu klingen. An diesem kargen Massstab können die
Flöten kurzatmig erscheinen, ihre Freiheit zur Melodie und zum
Ausdruck birgt auch die Gefahr des Leerlaufs - dazu bedürfte es
vielleicht nur dreier Trommelschläge mehr. In der Darbietung
von Musik ergeben sich also ganz konkrete Masse für den Ablauf der
Zeit: Der Schlag auf das Fell einer Trommel erzeugt einen Klang von
signifikanter Dauer, eine Zeitspanne, die den Charakter des Instruments
mitbestimmt, es wiedererkennbar werden lässt, letztlich auch das
Wesen des “Perkussiven“ ausmacht. Soll der Ton länger
dauern, muss er lauter sein, wird er lauter, klingt er anders; eine
Verknüpfung, die akustisch erzeugte Musik dem Drumcomputer voraus
hat.
Eine solche vom Leben eines Tons vorgemessene Zeitspanne
prägt das Zeitempfinden des Hörers über ihre Dauer
hinaus; sie kann bestimmen, wie lang eine Pause subjektiv währt.
Um z.B. einen perkussiven Klang über seinen nervenstimulierenden
Effekt hinaus wahrzunehmen, muss man ihn natürlich als Ganzes
hören; er muss als entstehender, klingender, verklingender Ton
deutlich werden; diese Ausdehnung muss ihm bleiben, auch wenn andere,
vielleicht lautere Töne gleichzeitig gespielt werden.
Das
Beobachten von Musik als Form von Zeit hat wenig mit Abstraktion zu
tun; die Beziehung des Hörers kann eine sehr körperhafte
sein, sich im unwillkürlichen Versuch äussern, die
körpereigene Zeit mit der Musik zu synchronisieren: Man hält
den Atem an - andere können Musik nicht hören, ohne zu
tanzen. In dieser Übersetzung ins Gestische werden Grenzen
offenbar, mit denen sich spielen lässt. Wenn der Bass in den
“Danses anciennes de Hongrie“ (HM 1003, Seite A, erstes
Stück) seine Trägheit genüsslich ausbreitet, entsteht
nicht nur zwischen ihm und den anderen Streichern eine Spannung - wie
langsam kann ein Tanz sein; wieweit könnte man ihn beschleunigen,
bevor er aufhört, es zu sein?
Tempo ist nicht nur interessant, wenn es an äussere Grenzen stösst.
Michel
Portal “Turbulence“ (HM 5186, Seite A, Mozambic): Man
hört in erster Linie nicht nur eine Reihe von Tönen
verschiedener Höhe, sondern die Modulation von Klängen durch
den Atem, eine Phrasierung kurzer Tonfolgen, die sich gestaltend bis
ins Innere des Klangs durchsetzt, sich als Rauhheit oder Glätte
niederschlägt; man hört tiefe Töne, die durch ihre
Binnenstruktur den Eindruck ausserordentlicher Schnelligkeit erwecken.
Dadurch und ausserdem hört man sehr schöne Musik.
Eine
solche Skala unendlich feiner Abstufungen ist nicht nur Vehikel
künstlerischer Darstellung, in ihrer Wahrnehmung stellt sich die
Ahnung eines gemeinsamen Zeitrahmens ein, einer fundamentalen Zeit,
deren letzte Erstreckungen ausserhalb der Musik liegen.
Mit welchen technischen Mitteln ist das angemessen zu reproduzieren?
Um
die Beziehungen zeitlich verschieden strukturierter Abläufe
darstellen zu können bedarf es Methoden der Aufzeichnung,
Speicherung und Wiedergabe, die mit diesem Elemet Zeit richtig umgehen
- es vor allem nicht zerschnippeln. Vielleicht ist hier ein Ansatz, die
Pole analog und digital zu bewerten: Zeit als gemeinsames Lebens- und Bezugselement der drei Ebenen
• gespielte, erlebte, imaginierte “Ur“-Musik • technisches Medium / Speicher • vernommene, neu imaginierte Musik
Wie
oft und wo ist dieser Weg unterbrochen? Reicht es, nur Informationen zu
transportieren, wenn die Botschaft in deren Anordnung zueinander liegt?
Eine
musikreproduzierende Anlage in dieser Richtung kompetent zu machen
heisst für die Ansprüche an die Teile und das Ganze
Kategorien zu finden, die im Lichte der High-End-Terminologie weit
hergeholt erscheinen mögen, es heisst oft auch, einer ersten
Faszination misstrauisch zu begegnen: Wunderschön, wie das
Instrument da steht - aber warum eigentlich gerade da?
Der Raum
Rechts
und links, abseits vom Weg - wie effektvoll und banal lässt sich
diese Dimension aufspannen! Aber ob mir etwas nah oder fern liegt, sagt
doch viel mehr über seine Bedeutung für mich.
Wieviel Lautsprecher braucht man dafür?
Der
reflektierte Klang ist vom Raum, den er durchmessen hat, auf andere
Weise geformt als der direkte; deshalb ist auch monaural
Räumlichkeit zu hören, sicher nicht überrumpelnd, nicht
von unmittelbar kulinarischem Wert, aber in einer Weise an den Klang
gebunden, die ein Urteil darüber erlauben könnte, ob
zeitliche und räumliche Kontur wesentliche, zwingende Beziehungen
haben.
Dann gewinnt auch das rechts und links seinen Sinn, nicht als Breitwandfolie, sondern als Raum für das Gleichzeitige. Viele
Aufnahmen sind es nicht, die eine solche Auffassung nahelegen.
Räumlichkeit wird oft als eigener, objektiver Wert angeboten, sie
verselbständigt sich, wird Ornament eines Lebensgefühls, das
nach dem Gediegenen verlangt; oder weniger polemisch: sinn-loser Rest
eines im Übermass angewandten Gestaltungsmittels - eben Kitsch.
Früher,
als das Wünschen noch half und die Dialektik noch funktionierte,
hätte sich ein harmonischer Schluss von selbst ergeben: Raum und
Zeit, von einer höheren Warte betrachtet...
Dass akustische
Vorgänge sich auf den Achsen eines Koordinatensystems einordnen
lassen, sagt aber wenig über Musik aus. Der Hörer muss seinen
Standpunkt finden; mit Hilfe von Aufnahmen, die
Aufführungsrealistik nicht vor die Musik stellen, mit einerAnlage,
die ihm eine angemessene Auffassungstiefe bietet, und mit so etwas wie
Gedächtnis.
Er steht dann nicht ausserhalb der Zeit, aber dort wo er sie als gestaltet überblicken kann - in Ruhe.
Ein Beitrag von Claus Hilgenstock Frankfurt, Juni 2007 | |